Die Kunst, dem Kind zu geben, was man selbst nie hatte
Was ist es, das aus jungen Menschen Eltern macht?
Seit ich selbst Kinder habe, frage ich mich: Ab wann sind wir wirklich Eltern? Was bedeutet es, diese Rolle voll und ganz einzunehmen? Wie hängt das Elternsein mit der eigenen Geschichte in der Rolle als Kind zusammen? Kann ich nur weitergeben, was ich selbst empfangen habe? Was, wenn es nicht reicht? Wenn mein Kind Bedürfnisse hat, die ich mit dem, was ich selbst an Ressourcen mitbringe, nicht erfüllen kann?
Die Definition von echter, gesunder Elternschaft ist kulturell, geschichtlich und sozial bedingt so divers, dass wir wohl keine allgemeingültige Aussage darüber treffen können, was faktisch zu TUN ist, um ein guter Elternteil zu sein. Selbst die unzähligen Ratgeber in unserer westlichen Welt sind sich über so vieles nicht einig. Es kann also nicht darum gehen, sich ständig „richtig“ zu verhalten und das Kind auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu erziehen, oder? Wenn ich den Maßstab von richtig und falsch anlege, kann ich nur verlieren und nie ein wahrhaftiger Elternteil sein.
Die Überschrift dieses Artikels beschreibt für mich das urtiefste Dilemma, dem wir als Eltern in unserem Alltag tagtäglich begegnen. Niemand von uns hat je alles erhalten, was er als Kind gebraucht hätte, um voll und ganz gesund und erfüllt aufzuwachsen. Der Spruch „niemand kommt unbeschadet durch die Kindheit“ trägt somit eine tiefe, wenn auch schmerzhafte Wahrheit in sich.
Und trotz alledem: Seit Urgedenken geben Eltern auf der ganzen Welt alles was sie haben und oft noch mehr, um die Lücken zu schließen und ihre Kinder gesund und glücklich aufwachsen zu lassen.
Wir lesen Ratgeber und tauschen uns mit anderen aus. Wir lernen und üben und stellen unsere eigenen Bedürfnisse zurück. Wir kämpfen mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen. Stehen jeden Tag neu auf, um es wieder zu versuchen. Die Liebe zu unseren Kindern treibt uns an, nie aufzugeben.
Die Zukunft der Kinder mit erschaffen
Auch wir haben selbst erfahren, was es bedeutet, wenn die Eltern nicht alles bieten können, was unsere Seele benötigt hat. Die meisten Menschen schlagen sich als Erwachsene ihr Leben lang mit dem herum, was ihnen gefehlt hat. Es macht den Menschen zu dem, wer er ist.
Wie können wir dazu beitragen, die ständige Weitergabe der immer gleichen Muster und Verletzungen von Generation zu Generation zu durchbrechen? Wie kannst du dem Kind geben, was du selbst nicht erhalten hast? Welches ist die unsichtbare Quelle, die ein „Wunder“ hervor zaubern kann?
Ein wichtiger Aspekt ist unser Fokus: Worauf wir uns ausrichten, das wächst. Konzentriere dich also auf das, was du bekommen hast, nicht auf das, was dir fehlt! Selbst, wenn du als Kind in einer wirklich miserablen Situation warst, kann es dir heute extrem helfen, dich an Dinge zu erinnern, die dich getragen haben. Wenn es nur ein Tag in einem ganzen Jahr war, der dir gut getan hat, so erinnere dich an ihn, so oft du nur kannst. Dieser eine Händedruck eines Freundes, der eine liebende Blick deines Vaters, das liebevoll leckere Essen deiner Mutter … es kann ein echter Lichtblick in deinem Leben sein. Entscheide dich dazu, dieser kleinen Sequenz tragende Bedeutung zu verleihen. Und: Mache dir immer wieder bewusst, dass der Mangel deiner Eltern auch der ihrer eigenen inneren Kinder ist. Es lag nicht an dir. So, wie es heute auch nicht an deinem Kind liegt, wenn du etwas nicht bieten kannst.
Verbinde dich außerdem mit der tiefsten Quelle deiner Empathie. Erinnere dich an deine eigenen Erlebnisse und mache dir gleichzeitig bewusst, dass dein Kind heute jemand ganz anderes ist, als du es damals warst. So kannst du zugleich nachempfinden und neue gedankliche Wege einschlagen, die von deiner Vergangenheit weg führen, hin zu der Zukunft deines Kindes:
Einfühlungsvermögen
Wenn du dein Kind beobachtest, was glaubst du, wer es sein möchte? Heute, aber auch in Zukunft? Wo liegen die Unterschiede zu deiner eigenen Persönlichkeit? Wo habt ihr Gemeinsamkeiten? Wie kannst du es bestmöglich unterstützen?
Was dir helfen kann: Sei präsent und höre mit dem Herzen zu. Diese beiden Tools sind wohl unter anderem die schwierigsten bei allem, was Eltern im Alltag bewältigen. Doch das Üben lohnt sich: Als Anhaltspunkt kannst du dich zu Anfang einfach nur darauf zu konzentrieren, zehn Minuten pro Tag voll und ganz Ohr und Auge für dein Kind zu haben. Spüre deinen Atem, fühle deine Füße auf dem Boden, nimm aktiv Anteil an dem, was dein Kind dir berichtet. So stillst du gleichzeitig ein Grundbedürfnis und lernst die Seele deines Nachwuchses immer besser und tiefer kennen. Du kannst immer mehr beim Kind sein, anstatt deine eigenen Gefühle auf es zu projizieren und damit vielleicht sogar im Prozess auch eigene Triggergefühle wie Druck und Leid etwas aufweichen. Ich weiß: Gerade Präsenz und Aufmerksamkeit haben wir von unseren Eltern oft nicht bekommen. Um dich hier selbst ein wenig zu unterstützen, habe ich gleich noch einen besonderen Tipp für dich, einen springenden Punkt.
Doch davor möchte ich noch auf einen wichtigen Punkt eingehen: Gemeinschaft. Hole andere Menschen mit ins Boot. Du kannst als einzelner Mensch niemals alle Bedürfnisse deines Kindes erfüllen. Manches mag schlicht nicht in dir angelegt sein, anderes ist tief verschüttet und braucht Zeit, wieder an die Oberfläche geholt zu werden. Wieder anderes liegt vielleicht einfach nicht in deiner Macht, sondern muss automatisch von einem anderen Menschen ausgefüllt werden. Dein Kind will unbedingt Klavier spielen und du bist vollkommen unmusikalisch und hast kein Geld, um ihm Unterricht zu ermöglichen? Werde kreativ! Wer könnte deinem Kind diesen Traum ermöglichen, in seiner Musikalität gefördert zu werden?
Der springende Punkt
Hier liegt das Wunder verborgen: Du wächst über dich hinaus.
Hier ein Beispiel: Vielleicht hast du als Kind zu wenig körperliche Nähe bekommen. Das Bedürfnis nach Berührung ist eines der grundlegendsten für ein gesundes Aufwachsen. Nun bemerkst du vielleicht, dass du Schwierigkeiten damit hast, diesem Bedürfnis deines Kindes voll und ganz nachzukommen. Du kämpfst mit den Folgen deines eigenen Mangels, fühlst dich unwohl bei der Berührung, unsicher, es fehlt dir an Wärme oder der Fähigkeit, in der Berührung voll und ganz beim Kind zu sein und Geborgenheit zu vermitteln.
Wie auch? Deine eigenen Zellen können sich nicht erinnern und daher auch schwer weiter geben. Doch es gibt einen ganz wundervollen Trick für unzählige dieser „Mängel“: Wir können uns vorstellen, wie es wäre, wenn wir all das selbst bekommen hätten oder heute bekommen würden. Wir können, mit viel Zeit, Liebe und Geduld uns selbst zeigen und fühlen lassen, wie es ist, darin erfüllt zu sein.
Zugegeben, es ist zeitweise ein schmerzhafter Reflexionsprozess, doch schon allein zu wissen, dass es grundsätzlich möglich ist, lässt das Ziel in greifbare Nähe rücken.
Schritt für Schritt kommst du dir selbst näher und kannst in deinem eigenen Heilungsweg den Bedürfnissen deines Kindes auf eine Art und Weise begegnen, die sowohl deine, als auch die Geschichte deines Kindes nachhaltig verändern.
Zu guter letzt: Lass dich nicht von oberflächlichen Bedürfnissen unter Druck setzen: Dein Kind will unbedingt dieses und jenes Konsumgut? Es möchte nur Süßigkeiten essen oder bis zehn Uhr wach bleiben? Du kannst dich entspannen: Überall nach zu geben, ist nicht, was mit echter Bedürfnisbefriedigung gemeint ist. Hinter dem „ich will“ steckt immer ein viel tieferes „ich brauche“, das dem Kind meist gar nicht bewusst ist. Deine Aufgabe ist es, diesem „ich brauche“ auf die Spur zu kommen und dem tieferen, echten Bedürfnis zu begegnen.
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