Unsere Kinder als Spiegel
Ein Ereignis
Mittags, 12:30 Uhr, gerade habe ich meine beiden Kinder von Schule und Kindergarten abgeholt. Fröhlich plappernd tuckern wir im Auto in Richtung nach Hause, Radiomusik dudelt, die Kinder schauen fröhlich plappernd aus dem Fenster.Ein Thema nähert sich, mit dem wir es als Familie seit einigen Monaten schon zu tun haben – die im Sommer folgende Einschulung meines Sohnes und ein geplanter Umzug.
Schon seit längerem spüre ich, da ist ein sensibler Punkt. Mein Sohn liebt den Kindergarten. Er spricht fast nie über die Schule und hat auch kein Interesse daran, mehr über seine Zukunft dort zu erfahren.
Ich beuge mich zu ihm hinüber und sage: Mensch, jetzt geht das ja richtig schnell, noch vier Wochen etwa, dann ist das Kindergartenjahr vorbei, die Ferien kommen!
Im selben Moment dreht er plötzlich den Kopf zur Seite und beginnt bitterlich zu weinen. Ich will nicht in die Schule, sagt er, ich will im Kindergarten bleiben, da ist mein Freund und all die Spielsachen, die gibt es sonst nirgendwo...
Mein Herz scheint schier zu implodieren. Wie viele von euch kennen den Unterschied in der Atmosphäre, wenn ein Kind aus reinem Trotz weint, oder aber zu spüren ist, dass in diesem Moment ein echter, tiefer Schmerz zum Vorschein kommt?
Zu alledem dreht das Kind den Kopf weg. Das bedeutet, da ist nicht nur Schmerz, da ist auch Scham. Scham über Tränen, die ich ihm nie beigebracht habe.
Dieser Anblick löst in mir tiefstes Mitgefühl aus. Mir ist, als müsse ich selbst durch diesen Prozess gehen.
Reflexion
Immer wieder ging mir diese Szene durch den Kopf, der plötzliche Ausbruch, die schon seit längerem rückwärts gerichtete Haltung meines Kindes, der Wunsch nach Sicherheit, Geborgenheit, Gewohnheit... und meine innere, starke Reaktion auf seinen Schmerz.
Tage später fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Der Schmerz, den ich gespürt habe, der sich als vermeintliches Mitgefühl getarnt hat,
war in Wahrheit mein eigener Schmerz.
Mein Kind hat mir gespiegelt, wie sehr auch mir selbst zuweilen vor dem Leben und der Zukunft graut, die so viele Unbekannte in der Gleichung bereit hält.
Seit Wochen schon ringe ich in meinem eigenen inneren Erleben darum, ehrlich zu mir selbst zu sein. Ich bin voller Tatendrang und brüste mich mit Zukunftsvision...
doch irgendwo auf der Strecke habe ich mein eigenes inneres Kind vergessen, das zutiefst wünscht, sich hinter meinem mütterlichen Rock vor meinem Veränderungsdrang verstecken zu können,
den Sieg meiner Sehnsucht nach Gewohnheit über dem Wunsch nach Neuem herbei sehnt.
*
Wir alle werden zuweilen auf die ein oder andere Weise mit unserem Schmerz konfrontiert:
Unsere Lebenswelt unterliegt stetiger Veränderung. Wir verlieren, vermissen, verpassen, verlassen.
Für unsere Kinder sind diese Erfahrungen neu und oft erstmalig.
Bei uns Eltern triggern sie alte Erinnerungen. Die Grundgefühle, die wir in der Vergangenheit unterdrückt haben
zeigen sich heute in Emotionen, die unsere alten, schmerzhaften Erfahrungen wieder an die Oberfläche holen.
Diese Emotionen bringen wir oft unbewusst in die Familiensituation hinein.
Ein Kind ist wütend, wir reagieren mit Abwehr. Es ist trotzig, wir verdrehen genervt die Augen.
Es ist traurig, wir reagieren übermäßig tröstend und lassen dem Kind gar nicht den Raum, sich auszuweinen.
Wir versuchen, uns die Gefühle des Gegenübers vom Leib zu halten, ertragen schwer, einfach mit ihnen zu sein.
Und jetzt?
Unsere Kinder sind ein Spiegel unserer eigenen inneren Lebenswelt und Glaubensüberzeugungen.
Die Spiegelneuronen legen fest, dass ein Kind durch Nachahmung lernt.
So können wir am Verhalten unserer Kinder oft erkennen, wo wir Eltern in Wahrheit stehen.
Bemerke ich an meinem Kind ein Verhalten, das mir Sorgen bereitet, atme ich tief durch
und schaue nach innen:
Wo liegt vielleicht genau diese Angst, dieses Bedenken oder die Wurzel jenes Verhaltens tief in meiner Seele ebenfalls verborgen? Was löst das Verhalten meines Kindes in mir aus? Welche Erinnerungen kommen zum Vorschein, welcher alter Schmerz möchte sich zeigen und gesehen werden?
Sobald ich bereit bin, mich meinen Ängsten zu stellen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und damit auch für mein „inneres Kind“ zu sorgen, kann sich die Atmosphäre in unserer Familie in eine neue, freie Richtung verwandeln.
Ich erinnere mich daran, dass mein Kind ein ganz anderer Mensch ist, als ich es bin, damals als Kind war.
Ich werde gewahr, dass seine Erlebenswelt eine andere ist. Dadurch, dass ich für mich sorge, kann ich meinem Kind voll und ganz in seiner Lebenswelt begegnen und zuhören, es begleiten und ermutigen, ohne meine Gefühle in seine Erfahrung hinein zu projizieren.
So erhalten unsere Kinder die Change, einen anderen Weg zu gehen, als ich wir ihn damals gegangen sind – was wir uns in vielen Fällen auch wünschen, richtig?
Nun wünsche ich auch dir, dass Du immer und immer wieder den Mut findest, dich deiner Seele voll und ganz zuzuwenden und immer wieder neu zu entdecken, wie du geprägt bist, was dich ausmacht – und zu erleben, wie durch liebevolle Selbstreflexion immer wieder neue, spannende und heilsame Wege eingeschlagen werden können.
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AUTORIN: SARAH ACKER
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